Wir Menschen sind auf dem Planeten die Minderheit der fühlenden Lebewesen. Greift es daher nicht zu kurz, den Menschen in den Mittelpunkt unserer Politik zu stellen, wie es in der Überschrift des Grundsatzprogrammprozesses der Grünen lautet? Ein Plädoyer für einen umfassenderen Gerechtigkeitsbegriff und einen anderen Umgang mit Tieren. Dieser Beitrag ist als Impuls im Debattenblog zum Grundsatzprogramm der Grünen erschienen.
Wir Menschen teilen uns die Erde mit vielen anderen Lebewesen. Sehr viele dieser Lebewesen sind uns dabei gar nicht so unähnlich. Wirbeltiere, ob über oder unter der Wasseroberfläche, sind uns ähnlicher als noch vor zwei Jahrzehnten gedacht. Nahezu jeden Monat erscheinen in einschlägigen Fachzeitschriften Artikel, die Tieren Fähigkeiten zuschreiben, die wir eher im Bereich der Märchen als der Naturwissenschaft verortet hätten: Haie haben verschiedene Persönlichkeiten, Reptilien lernen durch Nachahmung, Raben beeinflussen gezielt soziale Bindungen anderer und Fische nutzen Werkzeuge. Noch wichtiger aber: Tiere haben Gefühle, die denen von uns Menschen sehr ähnlich sind. Sie empfinden Freude, sie vermissen sich und trauern umeinander. Sie empfinden Schmerzen und leiden ähnlich wie wir.
Mittlerweile halten wir – nach Biomasse – mehr Tiere zur Lebensmittelproduktion, als Menschen und wildlebende Landwirbeltiere zusammen auf diesem Planeten leben. Richtig gelesen: Die meisten fühlenden Landlebewesen auf der Erde sind weder wir Menschen noch wildlebende Tiere. Die meisten fühlenden Landlebewesen sind von uns zur Lebensmittelproduktion gehaltene Hühner, Schweine, Rinder und Co. Die allermeisten dieser Tiere haben nie die Möglichkeit, ein auch nur halbwegs lebenswertes Leben zu führen.
In den Meeren leben gar noch viel mehr fühlende Lebewesen. Auch wenn Fische keine Laute von sich geben, auch sie empfinden Freude und Leid. Sie leiden unter der Versauerung der Meere durch unseren CO2-Ausstoß, durch unsere maßlose Überfischung und katastrophale Fischereimethoden, durch Antibiotika und Hormone aus Aquakulturen, durch Plastik und anderen Müll, durch Lärm, durch Ölkatastrophen oder durch von der landwirtschaftlichen Überdüngung verursachten Sauerstoffmangel. All dies ist menschengemacht.
Angesichts dieser Tatsachen erscheint die Überschrift zu unserem Grundsatzprogramm vielleicht in einem anderen Licht: „Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch“. Das ist zwar angesichts der erstarkenden Verrohung und Zersetzung der Gesellschaft durch rechtsextreme und nationalistische Bewegungen und Parteien nachvollziehbar. Jedoch lässt diese Formulierung dabei völlig außer Acht, dass wir Menschen auf diesem Planeten die Minderheit der fühlenden Lebewesen sind. Ein Gerechtigkeitsbegriff, der von allen fühlenden Tierarten nur die Spezies Mensch umfasst, wird seinem Namen nicht gerecht. Den Menschen in den Mittelpunkt unserer Politik zu stellen, greift deshalb zu kurz. Neben dem Wohlergehen aller Menschen müssen wir auch das Wohlergehen anderer Tiere in unserer Politik berücksichtigen – und dafür müssen wir die eigenen Positionen gewaltig überdenken.
Im Grundsatzprogramm von 2002 heißt ein Kapitel „Tiere brauchen Rechte“. Was das für Rechte sind, darauf fehlt im Kapitel selbst jeder Hinweis. Aber auch in den sechzehn seither vergangenen Jahren Grüner Politik haben wir noch keine Antwort gefunden. Es wird Zeit, dass wir das jetzt korrigieren. Wir sollten im Rahmen des Grundsatzprogrammprozesses diskutieren, welche Rechte wir Tieren gewähren und was das für unseren Umgang mit Tieren bedeutet.
Wir Grüne haben in den vergangenen Jahren beispielsweise sehr erfolgreich gegen die Haltung von Nerzen für die Pelzindustrie gekämpft. Ein weicher, wärmender und „ökologischer“ Pelz ist ein Luxusprodukt, für das kein Tier sterben soll – auch, weil es genügend tierleidfreie Alternativen gibt. Aber: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Leder- und einem Pelzmantel? Was unterscheidet diesbezüglich Fleisch von Pelz? Bei genauer Betrachtung sind auch tierische Lebensmittel Luxus auf Kosten anderer Tiere. Und die Tierhaltung verursacht nicht nur erhebliches Tierleid, sondern auch viele andere Probleme, die uns Menschen direkt betreffen: Sie schädigt das Klima, zerstört die Artenvielfalt und beeinträchtigt unser Wasser. Dabei gibt es zahlreiche Alternativen, die eine ebenso gute Versorgung mit allen lebensnotwendigen Nährstoffen sicherstellen. Der Autor einer in Science veröffentlichten Studie aus Oxford erklärt: „A vegan diet is probably the single biggest way to reduce your impact on planet Earth, not just greenhouse gases, but global acidification, eutrophication, land use and water use“.
Angesichts dessen ist es geradezu absurd, dass die Förderung pflanzlicher Ernährung noch nicht eins der obersten Ziele unserer Partei ist. Wir sollten pflanzliche Ernährung ernsthaft und umfassend fördern, um schrittweise wegzukommen von der Ausbeutung von Tieren durch uns Menschen. Ändern wir dies mit unserem Grundsatzprogramm! Lasst uns endlich, fünf Jahre nach dem Veggieday-Sommer, mit peinlichen Distanzierungen von Instrumenten aufhören, die Anreize für weniger Konsum dort setzen, wo die Gerechtigkeit gegenüber kommenden Generationen und Tieren ein Ende der Maßlosigkeit gebietet.
Die Ausnutzung von Tieren durch uns Menschen, ob zur Lebensmittelproduktion oder für medizinische Versuche, ist nicht gerecht. Sie kann auch mit unveräußerlichen Rechten für Tiere nicht in Einklang gebracht werden. Richtig wäre es deshalb, deren Ende zu fordern – zumindest als Fernziel. Und auf dem Weg dahin sollten wir eine Tierhaltung fordern, die bestmöglich an den Bedürfnissen der Tiere orientiert ist. Damit hat leider auch die aktuelle Biotierhaltung nichts zu tun, in der in aller Regel hochgezüchtete Rassen zu (bei Hühnern) Tausenden auf engstem Raum eingepfercht werden. Getrennt von ihren Familienmitgliedern und in überfordernden Sozialstrukturen, bevor sie nach kurzer Zeit und strapazierendem Transport gewaltsam getötet werden. Ein Grünes Programm, das beispielsweise auf eine Haltungskennzeichnung mit Bio als Nonplusultra setzt (wie bei Eiern), ist deshalb kein hilfreicher Ansatz.
Lasst uns das neue Grundsatzprogramm zum Wendepunkt grüner Politik machen: Weg von der Geringschätzung tierischen Lebens. Weg von der Angst vor Konsumkritik und Suffizienzpolitik vergangener Jahre. Hin zu einem umfassenden Gerechtigkeitsbegriff und grüner Politik, die nicht den Menschen als Krone der Schöpfung betrachtet, sondern den Menschen und seine Verantwortung und Empathie für alle fühlenden Lebewesen in den Mittelpunkt stellt.
Dieser Artikel ist am 19. September im Debattenblog zum Grundsatzprogramm der Grünen erschienen und hier abrufbar.